Reporterhonorare bei der BILD-Zeitung



Günter Wallraff:
Der Aufmacher —
Der Mann, der bei Bild
Hans Esser war
Kapitel: Vom Stadtschwein
und vom Landschwein
Seiten 82-56
(1977)

Anfangs wurde mir gesagt, daß ich 1 Mark pro Schreibmaschinenzeile bekomme. Ich mußte dann schnell feststellen, daß mir der Redaktionsleiter völlig unterschiedliche Beträge in die Honorarkarte einträgt: die Differenz liegt zwischen 100 und 300 Prozent. Dieses System wirkt disziplinierend, erzeugt Konkurrenz und Leistungsdruck unter den freien Mitarbeitern. Manch "Freier" arbeitet zwölf oder gar vierzehn Stunden und erreicht damit höhere Einkünfte, als ein "Fester". Das ist freilich Selbstbetrug. Wer bei der Prüfung seiner Monatsabrechnung Überstunden und Feiertagsschichten in Anrechnung bringt, erkennt schnell, daß sein Stundenlohn unter dem eines Akkordarbeiters liegt.

Man ist auf Gedeih und Verderb von Schwindmanns Gnade abhänging. Wenn er befindet "da seh' ich die Geschichte nicht", ist das Thema gestorben. Umgekehrt ist er so frei, tatsächlich Geliefertes auch mal nicht zu honorieren. Zum Beispiel werden mir zwei Photos trotz mehrmaliger Nachfrage nicht honoriert. Mein naives, beharrliches "Das steht mir doch zu" reizt Schwindmann schließlich derart, daß er auf die sogenannten "freiwilligen" Leistungen verweist und droht: "Was heißt hier 'Das steht dir zu'? Ich kann hier viel wieder streichen!"

Absolutismus Anno 1977. Es kommt vor, daß Schwindmann Manuskripte vor aller Augen zerreißt, wobei er brüllt und knallrot anläuft. In solchen Situationen kann jede Widerrede den Job kosten. Wie unserem Ressortleiter für Lokales, Gustav von Sylvgnadt. Ihn brüllt Schwindmann an: "Wenn Sie nicht auf der Stelle die Redaktion verlassen, lasse ich Sie von der Polizei entfernen!"

Niemand weiß so recht, worum es geht. Keiner wird nach seiner Meinung gefragt. Alle ducken sich und sind froh, daß es sie nicht trifft. Sylvgnadt wird durch die mobile Feuerwehr, den Chefreporter von BILD-Hamburg ersetzt. Eine Redakteurin, die mit dem Geschaßten privat befreundet war, hat sich schon am Tag darauf auf die neuen Machtverhältnisse eingestellt. Sie verliert kein Wort mehr darüber.

Eine wichtige Rolle im Prozeß der Unterwerfung und Anpassung spielt das Großraumbüro. Hier werden die Konkurrenzkämpfe auf offener Bühne ausgetragen. Keinen Augenblick ist man allein und unbeobachtet, es gibt immer Zuhörer und Zuschauer. Die Regulierungskräfte eines Großraumbüros bringen jeden Abweichler wieder auf Linie. Jeder kontrolliert jeden und alle werden vom Chef kontrolliert, der über's Großraumbüro herrscht.

Dieser Chef, der Redaktionsleiter, ist der Mann mit dem BILD-Instinkt. Er drückt dem Blatt den Stempel der Zentrale auf. Der Redaktionsleiter gibt die Richtung an, die dann Sach- bzw. Schreibzwang wird. (Die Springer-Ideologie hat jeder zusätzlich im Hinterkopf.) Er bestimmt das Tempo, den Ablauf, die aktuelle politische Richtung, die tägliche Arbeitsatmosphäre.

Wenn ich ihm das Manuskript vorlege und vor seinem Schreibtisch antrete, kommen alte Schulängste wieder in mir hoch. Er läßt einen warten, beginnt dann mit dem Lesen, redigiert, korrigiert, streicht, stellt Fragen. Wenn was gegen die BILD-Masche verstößt, "sieht er die Geschichte nicht". Darauf stellt man sich natürlich ein. Verinnerlichen heißt das auf Soziologisch.

Sein Kommentierungsmuster bleibt durchgängig unverändert: nichts ist ihm triefend, schnulzig, verdreht, übertrieben genug. Vieles ist "zu nachrichtenhaft", "zu sachlich", hat "zu wenig Pep". Alles muß auf den einfachsten Nenner gebracht werden. Alle Widersprüche müssen im nächsten Satz aufgelöst werden. BILD läßt keine Fragen offen.

Ansätze solidarischen Handelns versickern, werden durch die Arbeitsbedingungen untergraben. Wenn fünf Wochen vergeblich versucht wird, einen gemeinsamen Abendstreff zu organisieren, ist sogar bei den "Freien" die Luft raus und die hätten Einigkeit am nötigsten.

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Friedhelm Borchers, Mitglied einer Vertriebenenorganisation, Funktionär der Jungen Union, will für eine langgeplante Sternfahrt mit dem Fahrrad nach Gotland zwei Wochen Urlaub haben. Schwindmann: "Bist du hier, um Ferien zu machen oder um zu arbeiten?"

Borchers ist seit Monaten im Einsatz, nahezu ohne einen freien Tag. Er wird zum Notdienst sonnabends eingesetzt, ist täglich von morgens 9, 10 Uhr bis in die Nacht in der Redaktion. Es scheint, Schwindmann will ihn auf seine Art "fördern", um ihn BILD-gerecht zu formen. Denn Borchers legt nicht die abverlangte Härte und Kaltschnäuzigkeit an den Tag, dreht die Geschichten nicht im erwünschten Sinn, hat überhaupt etwas in gutem Sinne Provinzielles, was ihn in diesem Klima zu einer Art Trottel degradiert. Er hat nichts von dem hier eingefärbten, gespielt "weltmännischen" Touch an sich, geht nicht mit der üblichen Nonchalance über alles hinweg.

Borchers ist es auch, der immer wieder den Mut aufbringt, ein Treffen der Freien vorzuschlagen, das — wie gesagt — nie zustande kommt, weil einige Angst haben, daß ihnen dieses Zusammensein als vorbereitung einer Verschwörung ausgelegt werden könnte. Ich schätze den Menschen Borchers in seiner steifen, konventionellen Gradlinigkeit — trotz unterschiedlicher politischer Standorte.

Ich frage mich immer häufiger, was aus mir in einem derartigen Umfeld würde, hätte ich nicht meine ganz besonderen Erfahrungen, Prägungen und Orientierungen. Ich bin mir nicht so sicher. Aus einer gewissen spielerischen Leichtigkeit könnte hier schnell eine sich über alles hinwegsetzende Skrupellosigkeit werden, aus Überzeugungskraft Überredungskunst, aus Einfühlsamkeit Anpassungsfähigkeit und aus dem Überlisten von Stärkeren das Übertölpeln von Schwächeren. Niemand weiß, wie jemand dahingekommen ist und ob er im abgesteckten Rahmen Widerstand übt. Eine vorschnelle, vordergründige politische Standortbestimmung hilft da nicht weiter, wie mich Friedhelm Borchers' Beispiel lehrt.

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Am Karfreitagvormittag überfährt Borchers mitten auf einem Zebrastreifen einen 80-jährigen Mann. Der ist auf der Stelle tot. Borchers war auf dem Weg zur Redaktion. Er hatte völlig freie Sicht und es gab auch sonst kein Verkehrshindernis. Am Abend davor hatte ich im Redaktionsgebäude mit ihm Tischtennis gespielt und nach zehn Minuten war er erschöpft und ihm wurde schwarz vor Augen.

In der Folgezeit ist er für Schwindmann noch verfügbarer geworden. Der Springer-Konzern stellt ihm den Prominentenanwalt und BILD-Kommentator Josef Augstein zur Verfügung und schickt ihm noch zur Unfallstelle den Redakteur Kampfer, einen abgebrochenen Juristen, der ihn beraten soll.

Auf meine Frage "Lebt die Frau des Mannes, den du totgefahren hast, noch und falls ja, warst du mal bei ihr?" antwortet Borchers: "Die wollten hier nicht, daß ich mich mit so was befaßte und haben mich aus dem Grund von allem abgeschirmt."